Mediation statt Diplomatie

Franziskus und der Wolf – Skulptur von Laurentius Englisch OFM vor dem Franziskanerkloster Vossenack

Was politisch von Franz von Assisi in der aktuellen Krise zu lernen ist.

Eine Reflexion von Prof. Thomas Nauerth

Der US-amerikanische Theologe Walter Wink hat in einer scharfen Analyse den sog. “Mythos erlösender Gewalt” als leitende Religion unserer Zeit herausgearbeitet. Wink spricht vom gesellschaftlich selbst­verständlichen Glauben an tötende Gewalt als letztes und legitimes Mittel. Für Wink ist dieser Glaube die eigentliche Religion unserer Zeit, denn das, wonach wir in höchster Not greifen, wonach wir in der Not rufen, das sei unser Gott. Nach Walter Wink stellt sich hier die eigentliche Gottesfrage:

“Der Gott dieses Mythos ist nicht der unparteiische Herrscher aller Nationen, sondern ein Stammesgott, der als Götze verehrt wird. (…) Sein Symbol ist nicht das Kreuz, sondern das Fadenkreuz (…). Er bietet nicht Vergebung an, sondern Sieg. (…) Der Mythos (…) ist Götzendienst. Er ist Gotteslästerung. Und er ist unermesslich beliebt.” (Wink, Walter: Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit, Regensburg 2014; 2. Auflage 2018, 64.)

Die Beliebtheit dieses Mythos zeigt sich aktuell in bedrückender Weise. Putins Regime, die Regierung in Kiew und die PolitikerInnen des angeblich an demokratischen Werten so reichen Westens, sowie der über­wiegende Teil der medialen Öffentlichkeit in allen Ländern, sie teilen eine gemeinsame Grund­überzeugung: es ist sinnvoll und es ist möglich, Konflikte mit tötender, militärischer Gewalt zu lösen. Trotz aller erlebten Desaster und Fehlschläge (Afghanistan!) wird immer wieder, gegen jede Vernunft, in tötender, militärischer Gewalt die Lösung gesehen. Wenn es nicht endlich gelingt, diesen Mythos zu brechen, wird er die Welt in den Abgrund reißen. Das ist dieser Tage so deutlich, wie selten.

Deutlich wie selten wird dieser Tage aber auch, dass da noch ein weiterer Mythos sich unheilvoll ausagiert, oder anders formuliert ein Grundparadigma verheerend wirkt. Man könnte es das Süh­ne/Schuld/Strafe Paradigma nennen. Wer hat Schuld, wer hat Recht, wer ist unschuldig, wer ist im Unrecht? Die Schuldigen und die im Unrecht, die muss man bestrafen, auf gar keinen Fall darf man sie dadurch belohnen, dass man auf ihre Interessen achtet, diese gar berücksichtigt. Erst müssen sie bereuen, Schuld eingestehen, umkehren und am besten Buße tun, dann vielleicht kann man mit ihnen verhandeln. Es muss dieses Paradigma sein, dass Medien und Politiker so unfähig macht zum Geschäft eines wirklich friedensstiftenden Interessenausgleichs. Auch bei der aktuellen Debatte über Sanktionen scheint es manchmal mehr um allgemeines Strafen zu gehen, als um zielgerichtete Maßnahmen, die Gewalt minimieren und Druck für konstruktive Lösungen aufbauen. Sanktionen müssen mit konkreten Bedingungen verknüpft sein, damit sie Verhaltensänderungen auslösen können. In den Wochen vor dem russischen Einmarsch hatte man eigentlich nie das Gefühl, dass wirklich konstruktive Gespräche über einen Interessensausgleich geführt werden. Stattdessen hatte man allzu oft das Gefühl, erfahrene Streitschlichter und Streitschlichterinnen aus unseren Schulen hätten mehr erreicht als die politische und diplomatische Elite….

Wenn man solche Gedanken vorträgt, folgt spätestens jetzt der erste empörte Zwischenruf: Alles gut und schön, aber was soll das jetzt nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine?

… Am leichtesten zugänglich, ist diese Tradition in einer in christlichen Kreisen häufig wohl­be­kannten Geschichte: “Von dem hochheiligen Wunder, das der heilige Franziskus wirkte, als er den grimmigen Wolf von Gubbio bekehrte.

Es geht in dieser Geschichte weder um ein Wunder, noch um eine Bekehrung; es ist auch keine Legende, es ist eine Lehrerzählung aus einer Zeit, in der in Europa ein Denken in Kategorien von Restorative Justice und Mediation scheinbar noch üblich war. Inzwischen haben auch die Historiker des Mittelalters in ihren Quellen entdeckt, was man in dieser Geschichte bereits entdecken kann: das Mittelalter hatte eine Tradition friedlicher Konfliktbeilegung durch Streitschlichter. Franziskus ist nur ein Beispiel für eine Besonderheit der mittelalterlichen Gesellschaft. Es gab weder eine Zentralgewalt, noch ein Gewaltmonopol; kein Strafgesetzbuch und kein verbindliches Rechts­system war flächendeckend vorhanden, es war eine Situation gewaltförmiger Auseinandersetzungen wie sie heute im Weltmaßstab noch immer zu häufig zu finden sind. Konflikte mussten von Menschen geschlichtet werden, dazu suchte man vornehmlich besonders fromme Menschen auf. Bei diesen Schlichtungen ging es nicht darum, Schuld festzustellen und zu bestrafen, es ging um Ausgleich von Interessen, um Versöhnung der Perspektiven beider Seiten. Europa sprach damals Latein, das Wort Mediation, und Mediator war auch aus religiöser Sprache bekannt, es war ein Titel von Christus selbst (vgl. 1 Tim 2,5). Der heilige Franziskus hat als weltlicher, politischer Mediator gearbeitet, bei seiner Frömmigkeit, Heiligkeit hatte er auch gar keine andere Chance, die Menschen kamen mit ihren Konflikten zu ihm. Die „Kunst der Ver­mittlung und ihre Spezialisten“, so heißt ein Kapitel in einer ent­sprechenden Studie; die Reihe in der diese Studie erschienen ist, trägt den Titel „Symbolische Kommunikation in der Vormoderne“. (Kamp, Hermann: Friedensstifter und Vermittler im Mittelalter, Darmstadt 2001.)

Die Geschichte vom Wolf von Gubbio ist ein Paradebeispiel sowohl für diese Kunst der Vermittlung als auch für symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Die Story der Geschichte handelt von einem ‘ungeheuer großen, schrecklichen und wilden Wolf, der nicht nur Tiere verschlang, sondern auch Menschen`. Die Bürger der Stadt Gubbio, obwohl immer “bewaffnet, als ob sie in die Schlacht” zögen, können sich nicht mehr verteidigen, Franziskus aus “Mitleid mit den Menschen der Stadt” geht hinaus zum Wolf, nicht um ihn zu bekehren, sondern um mit ihm zu verhandeln. Diese Verhandlung beginnt zunächst mit einer Anklage. Klar wird die Schuld, das Verbrechen des Wolfes benannt, aber sie wird nicht öffentlich hinausposaunt, sondern dem Wolf ins Angesicht gesagt: “Deshalb verdienst du als übelster Dieb und Räuber den Galgen”. Dann aber kommt das Angebot: “Ich will aber, Bruder Wolf, Frieden machen zwischen dir und ihnen, indem du sie nicht mehr angreifst; sie aber sollen dir jede vergangene Missetat vergeben und weder Menschen noch Hunde sollen dir weiter nachstellen”. Franziskus agiert hier als ein Friedensstifter und Friedensvermittler, der explizit außerhalb eines Sühne/Schuld/Strafe Paradigmas denkt. Ein solcher Vermittler sieht auf die Interessen, die Bedürfnisse, zunächst, das, was Putin aktuell “Sicher­heits­interessen” nennt (“weder Menschen noch Hunde sollen dir weiter nachstellen”) und dann (Über-)-Lebensinteressen: “ich weiß sehr wohl, dass du aus Hunger all das Böse getan hast.” Franziskus schaut nicht nur auf das Böse, er schaut auf die Motivation zum Bösen und dies macht er nicht, weil er ein Heiliger ist, sondern weil er ein Mediator war. In einer Rückerinnerung eines Bischofs an seine einzige Begegnung mit dem heiligen Franz heißt es: „Schmutzig war sein Habit, die Person verächtlich, das Gesicht nicht gerade schön. Gott gab aber seinen Worten eine solche Überzeugungskraft, das viele Adelsgeschlechter, die über Jahre voll Hass und Feindschaft mit Mord und Totschlag gegeneinander gewütet hatten, sich zum Abschluss eines Friedensvertrages bewegen ließen.“

Putin hat drei Punkte benannt, Neutralität der Ukraine, Abrüstung der Ukraine, Anerkennung von Krim und Unabhängigkeit der beiden Enkla­ven im Osten. Darüber sollte man doch verhandeln können! Darüber muss man verhandeln! Die Frage aber, ob man einem Aggressor anerkennenswerte Interessen attestieren darf, ob man verstehen kann, ohne gleich Verständnis zu haben, ist sowohl in der medialen Öffentlichkeit wie in der Politik schon schwierig zu stellen, geschweige denn einfach zu beantworten.

Und man nimmt in Kauf, dass für unsere Prinzipien (‘Aggression darf sich doch nicht lohnen, wo bleibt die Strafe, das Unrecht muss öffentlich benannt werden, Frieden nur durch Recht` usw.) Menschen sterben……… Die Überzeugung, der Böse sei zu strafen scheint unendlich tief in uns drin zu sitzen – über die Folgen und über die Kosten solcher Haltung machen wir uns keine Gedanken, in der Regel müssen ja auch andere die Kosten zahlen.

Wir haben in Europa unsere eigene Tradition von Mediation im politi­schen Feld fast völlig vergessen, die Möglichkeit einer Verhandlung auch mit brutalen Totschlägern und Mördern, wie dem Wolf von Gubbio – um des Lebens der vielen willen. ‘Was will man denn auf der Ebene internationaler Außen – und Sicherheitspolitik mit Ansätzen von Mediation und Streitschlich­tung, wie sie vielleicht in unseren Schulen funktionieren`, so wird spöttisch gefragt. Wer aber weiß noch, dass der westfälische Frieden nach dem 30jährigen Krieg in Münster mit Hilfe von zwei selbstbewussten Mediatoren ausgehandelt wurde. Die hießen tatsächlich so – und der eine war vom Papst gesandt!

Die aktuelle politische Diplomatie muss daher dringend um Angebote politischer Mediation für den internationalen Bereich ergänzt werden. Die aktuelle politische Diplomatie muss zudem dringend ge­schult werden, um einen Blick für alternative Formen der Konfliktlösung zu gewinnen. Ein Praktikum an Schulen mit bewährten Streitschlichtermodellen könnte hochrangigen Diplomaten hier wohl entschei­dend weiterhelfen.

Apl. Prof. Dr. theol. Thomas Nauerth

Institut für Katholische Theologie

Universität Osnabrück

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