Die Wirklichkeit zählt mehr als die idee

Leben ist Begegnung. Franziskanisches Leben ist Begegnung. Das internationale franziskanische Mattenkapitel vom 29.-31. Oktober 2023 in Altötting ermöglichte Begegnung und förderte Begegnung…

Die Wirklichkeit zählt mehr als die idee

Geschwisterlichkeit auf dem Prüfstand

Bericht vom Franziskanischen Mattenkapitel

Leben ist Begegnung. Franziskanisches Leben ist Begegnung. Das internationale franziskanische Mattenkapitel vom 29.-31. Oktober 2023 in Altötting ermöglichte Begegnung und förderte Begegnung – zwischen einander vertrauen Gesichtern, aber auch erfreulich vielen neuen Schwestern und Brüdern, Ordens- und Nichtordensleuten. Die Freude war groß, nach etwas längerer Pause einander wieder in dieser Weise treffen zu können. Das „KO-Team“ machte es möglich, das Koordinationsteam bestehend aus Regina Postner und Br. Josef Fischer (D), Sr. Franziska Bruckner und Sr. Klara Diermaier (A), Nadja Rudolf von Rohr und Sr. Beatrice Kohler (CH) sowie Natanael Ganter für die technische Assistenz.

Die Aufstellungen zu Beginn verdeutlichten die bunte Vielfalt aus den Regionen Deutschland, Österreich, Schweiz, Luxemburg / Sonstige, aus den Orden, dem OFS, den Weggemeinschaften und anderen Interessierten und der Anreisezeit, die die Einzelnen auf sich genommen hatten. Auch bei der Zuordnung sechs Stunden und mehr fanden sich einige, die einen weiten Weg in Kauf genommen hatten. Auf die Vorstellung der Region Deutschland folgte ein Speed-Dating zu den Fragen „Wie wurde ich auf das Mattenkapitel aufmerksam?“, „In welcher Wirklichkeit lebe ich aktuell?“ und „Was müsste passieren, dass ich am Dienstag zufrieden nach Hause fahre?“ Nach der Vorstellung der Region Schweiz zeigten kurze Aufstellungen, wer bereits über 25 Jahre in seiner Lebensform lebt, wer dieses Jahr bereits in Assisi war, wer das erste Mal Altötting besucht, wer zum ersten Mal bei einem INFAG-Mattenkapitel dabei ist und wer in diesem Jahr etwas mit einer franziskanischen Gemeinschaft unternommen hat. Als dritte Region stellte dann Österreich ihre Aktivitäten vor, bevor es in den lockeren Teil der Rekreation überging.

Wertesonne und Franziskusformel

Zwei Impulsreferate prägten inhaltlich das Mattenkapitel. Br. Niklaus Kuster stellte die Wertesonne vor, die in Anlehnung an das IHS-Symbol von Bernhardin von Siena zwölf Werte für unsere Zeit unter den vier Aspekten von ICH, WIR, IHR und ALLES benennt. Während Normen verpflichten und einfordern, lassen sich Werte nicht einfordern. Sie gilt es zu entdecken und zu pflegen, gemeinsam zu teilen und zu leben.

Br. Niklaus erläuterte dazu den Entstehungsprozess der Wertesonne und die Veränderungen, die sie durch die Anwendung in verschiedenen Institutionen erfahren hat. Das IHS-Symbol war von Bernhardin her auf Christus zentriert. In der Wertesonne wurde die Mitte durch „Liebe zum Leben“ ersetzt, da die Werte auch von Menschen anderer Religionen in den Einrichtungen gelebt werden sollen. Sie lassen sich aber auch humanistisch formulieren. Br. Niklaus stellte exemplarisch je einen Wert aus den vier Aspekten vor: für das ICH Freiheit – inspiriert, für das WIR Augenhöhe – geschwisterlich, für das ALLES Pilgerschaft – mystisch. Eine weitere Fortführung hat das Franziskuswerk in Schönbrunn gefunden, deren Verantwortliche sich für den Regenbogen als Symbol entschieden haben. Den Grundwerten von Solidarität, Achtsamkeit, Respekt, Kreativität, Mut, Freiheit und Toleranz haben sie jeweils einen Wert in den vier Kategorien von ICH, WIR, IHR und ALLES zugeordnet, so dass insgesamt 35 Werte benannt sind.

 

Dr. Erny Gillen brachte den Teilnehmenden die von ihm entwickelte „Franziskusformel“ nahe. Dabei geht es nicht um den Heiligen aus Assisi, sondern um Papst Franziskus und die vier „Leitsätze“, die er bereits 1972 entwickelt und in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ wieder aufgegriffen hat: Die Zeit ist wichtiger als der raum. Die Einheit ist wichtiger als der konflikt. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die idee. Das Ganze ist wichtiger als das teil (die Groß- und Kleinschreibung ist als optische Markierung der Wichtigkeit gewählt). In Anlehnung an Romano Guardini geht es im philosophischen Sinn um die Gegen-Sätze, also die beiden Seiten, die ich brauche, um eine Sache zu verstehen. Das Licht verstehe ich beispielsweise nur, wenn ich auch die Dunkelheit kenne. Anhand eines Gummibandes verdeutlichte der Referent, dass es immer beide Pole braucht, nur zieht dabei einer stärker als der andere.

Die Frage ist, wie Spannungen produktiv und fruchtbar sein können und wie wir als franziskanische Familie in Bewegung kommen können. Spannungen sind dabei etwas Wertvolles, denn wenn sie verloren gehen, kommt nichts in Bewegung. Wenn ein Pol im anderen untergeht, geht er verloren und mit ihm die Spannung. Wird Spannung zu stark, wird sie Überforderung und kann zerreißen. Wird Spannung zu gering, wird sie zur Unterforderung und kann erschlaffen. Beim ersten Gegen-Satz von Zeit und Raum stellt sich die Herausforderung, wie wir die gewachsenen verfestigten Räume in die Zukunft transformieren. Die auf uns zu kommende (adventliche) Zeit verändert (Spiel- und Handlungs)Räume. Erstarrt Geschichte, dann werden Kirche und Orden zu Museen, sind sie aber lebendige Gegenwart, dann werden sie zum Feldlazarett, um mit Bildern von Papst Franziskus zu sprechen. Die Räume in die Jetzt-Zeit zu übersetzen heißt Frei-Räume für Neues zu schaffen, Frei-Räume für das Wirken des Geistes. Geschieht dies zu radikal wie bei den 68ern droht die Gefahr, dass auch wesentliche Werte über Bord gehen, die für die Gestaltung der Zukunft fehlen. Beim zweiten Gegen-Satz von Einheit und Konflikt ist zu schauen, welche Konflikte produktiv sind und auf dem Weg zur Einheit vorankommen lassen. Im guten Sinn ist Einheit der befriedete Konflikt von gestern.

Der päpstliche Polyeder

Papst Franziskus spricht von einem Polyeder (Vielseiter). Erni Gillen hat einen solchen als Octaeder entwickelt und mit den acht Begriffen von Papst Franziskus versehen. Dem obenauf liegenden offen-sichtlichen Begriff korrespondiert ein verdeckter darunter liegender, der aber ebenfalls da und wichtig ist. Er spricht von einem spirituellen Prinzip (Glaube), einem weisheitlichen Prinzip (Hoffnung) und einem politischen Prinzip (Liebe). In Anlehnung daran versteht sich Papst Franziskus als „Sünder“, „Gebarmherzigter“ und „Realist“. Das bekannte Prinzip von Sehen – Urteilen – Handeln hat er in ein Begleiten – Unterscheiden und Integrieren abgewandelt.

Umsetzung in die Praxis

Das Gehörte wurde in vier Workshops vertieft, die sich an den vier Koordinaten der Wertesonne ausrichteten. Zum ICH ging es unter der Leitung von Br. Stefan Kitzmüller um die Selbstsorge und die Entwicklung von Resilienz.

Der Workshop zum WIR zu Mann-Frau-Gemeinschaft musste aufgrund einer Erkrankung der Referentin leider entfallen. Zum Kontext des IHR bot Nadia Rudolf von Rohr ein BibelWort in Bewegung zur Exodusstelle 17,1-7 „Massa und Meriba, Probe und Streit“ an.

Das ALLES wurde durch Sr. Christina Mülling und Sara Kreutzer vertieft unter dem Stichwort der Pilgerschaft und des Unterwegsseins in der Franziskanischen Familie sowie den beiden ersten Franziskussätzen.

Da das Mattenkapitel hybrid stattfand, gab es auch virtuelle Teilnehmende, die einen digitalen Workshop unter der Leitung von Sr. Franziska Bruckner besuchen konnten.

Musisch – kreativ

Der angekündigte unterhaltsame Abend erwies sich als Auftritt von Br. Sandesh Manuel, der, aus Indien stammend, seit einigen Jahren in Wien lebt und versucht, die Frohe Botschaft musikalisch rüberzubringen. Dies gelang ihm mithilfe von vier jungen Leuten, die ihn per Klavier, Handdrum, Klarinette, Bass und Gesang unterstützten, auf vielfältige Weise. Neben kirchenmusikalisch eher bekannten Klängen fehlte auch die Gattung Rapp nicht, mit der Br. Sandesh junge Menschen anzusprechen versucht. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf den sozialen Medien, insbesondere auf YouTube, wo sich seine Musikvideos abrufen lassen.

Transfer in den Alltag

Am letzten Vormittag stand der Transfer in den Alltag an. Dazu wurden sechs Gruppen gebildet, die jeweils drei Fragen bekamen und ihre Antworten im Rotationsverfahren auf Plakaten festhielten.

Welche wichtige Erkenntnis nehme ich mit?

Was möchte ich im Alltag umsetzen?

Welche Widerstände zeigen sich?

Dabei wurde beispielsweise angemerkt: Was geht, wenn der eigene Kräfteverzehr kaum Zeit und Raum zur Neugestaltung lässt? Bleiben noch Kapazitäten sowohl für eine Komm-her- als auch eine Geh-hin-Struktur?

Die beiden Referenten Niklaus Kuster und Erni Gillen haben dann noch einmal Stellung bezogen und verschiedene Gedanken in ihre Modelle integriert.

Schwerpunktmässige Zuordnung der zwölf bündelnden franziskanischen Werte

zu den vier fruchtbaren Spannungen im Oktaeder von Erny Gillen

Die kommende Zeit verändert den geprägten Raum! 

  • Kreativität – talentiert
  • Gefährt:innenschaft – auf Zeit
  • Pilgerschaft – mystisch

Die neue Wirklichkeit verändert die fixen Ideen und Ideale.

  • Selbstsorge – sensibel
  • Sorgsamkeit – mütterlich
  • Ehrfurcht – wach

Produktive Konflikte dienen einer reifenden Einheit.

  • Augenhöhe – geschwisterlich
  • Teamgeist – beziehungsfähig
  • Solidarität – sozial

Kreative Teile ermöglichen zusammenwirkend ein bewegtes Ganzes.

  • Freiheit – inspiriert
  • Gemeinschaftssinn – integrativ
  • Schöpfungsliebe – ökologisch

Ein Gruppenfoto hielt die Teilnehmenden für die Nachwelt fest, bevor das Mattenkapitel seinen Abschluss mit der Eucharistiefeier in der Kirche fand.

Die auf dem Prüfstand stehende Geschwisterlichkeit wurde in den Tagen weniger thematisiert, was sich als nicht nötig erwies, denn sie wurde gelebt.

Auf ein Neues…

So bestand am Ende der einhellige Wunsch, dass dieses Mattenkapitel nicht das letzte gewesen sein möge, sondern sich weitere interfranziskanische Begegnungsmöglichkeiten anschließen mögen.

Br. Stefan Federbusch